Mehr als nur ein halbes Leben by Lisa Genova

Mehr als nur ein halbes Leben by Lisa Genova

Autor:Lisa Genova [Genova, Lisa]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


NEUNZEHNTES KAPITEL

* * *

Bob fährt uns nach Hause. Nach Hause! Selbst die Fahrt in dem zweitürigen VW Käfer meiner Mutter, in dem ich noch nie gesessen habe, kommt mir vor wie zu Hause. Ich sitze wieder in einem Wagen! Da ist das Wissenschaftsmuseum! Ich bin auf der Route 93! Ich bin auf dem Mass Pike! Da ist der Charles River! Ich grüße im Vorbeifahren jeden vertrauten Orientierungspunkt, als würde mir ein guter alter Freund über den Weg laufen, und ich verspüre diese wachsende Aufregung, die sich immer einstellt, wenn ich nach einer langen Geschäftsreise vom Flughafen nach Hause fahre. Aber heute muss man diese Aufregung noch mal zehn nehmen. Ich bin fast da. Ich bin fast zu Hause!

Alles tritt überdeutlich zu Tage. Selbst das Nachmittagslicht in der Außenwelt erscheint meinen Augen über die Maßen hell und strahlend, und jetzt verstehe ich, warum Fotografen natürliches Licht bevorzugen. Alles sieht dynamischer aus, dreidimensionaler und lebendiger als irgendetwas, was ich einen Monat lang in dem nüchternen Neonlicht von Baldwin gesehen habe. Doch es ist nicht nur die kühne Schönheit des Außenlichts, die mich so begeistert. Das Sonnenlicht, das durch die Windschutzscheibe scheint, fühlt sich herrlich warm auf meinem Gesicht an. Mmm. Neonlicht tut das nicht. Es ist unvergleichlich.

Und die Luft in Baldwin war immer schal und abgestanden. Ich will wieder echte Luft spüren, ihre kühle Frische (wenn auch etwas verschmutzt von Abgasen) und ihre Bewegung. Ich »drehe« das Fenster einen Spalt breit hinunter. Die kühle Luft pfeift durch den Schlitz in den Wagen und tänzelt durch mein kurzes Haar. Ich atme sie durch die Nase ein, fülle meine Lungen damit und seufze vor purem Glück.

»Hey, es ist kalt«, sagt Bob und fährt mein Fenster mit der Zentralsteuerung auf der Fahrerseite wieder hoch.

Ich starre durch mein geschlossenes Fenster, aber binnen Sekunden kann ich dem Drang, wieder eine wilde Brise zu spüren, nicht mehr widerstehen. Ich drücke auf den Knopf, aber mein Fenster bewegt sich nicht. Ich drücke und drücke und drücke.

»Hey, mein Fenster klemmt«, sage ich weinerlich und vorwurfsvoll, weil mir klar ist, dass Bob auf den Sperrknopf gedrückt und für alle anderen im Wagen entschieden haben muss, dass die Fenster geschlossen bleiben werden. Jetzt weiß ich, wie sich die Kinder fühlen, wenn ich das mit ihnen mache.

»Hör zu, bevor wir nach Hause kommen, will ich mit dir über deine Mutter reden«, ignoriert Bob meine Beschwerde. »Sie wird noch eine Weile bei uns bleiben.«

»Ich weiß, sie hat es mir gesagt«, erwidere ich.

»Oh. Gut«, sagt er.

»Neeiin, nicht gut. Ich will nicht, dass sie bleibt. Wir brauchen sie nicht. Ich schaffe das schon«, entgegne ich.

Er sagt nichts. Vielleicht grübelt er darüber nach. Oder vielleicht ist er auch froh, endlich meine sehr entschiedene Meinung zu dem Thema zu hören (nach der er mich schon längst hätte fragen sollen), und gibt mir zu hundert Prozent recht. Vielleicht lächelt und nickt er. Aber ich habe keine Ahnung, was er tut oder denkt, denn ich bin zu gebannt von der Landschaft vor meinem Fenster, um meine Aufmerksamkeit wieder nach links zu richten, daher weiß ich nicht, was sein Schweigen zu bedeuten hat.



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